Stuttgart 21
Hallo,
nachdem ich heute in der FAZ einen sehr interessanten Artikel über das Thema "Stuttgart 21" gelesen habe, würde ich davon gerne einiges hier zitieren.
Dieser Artikel hat mir als Nicht-Stuttgarter geholfen zu verstehen, warum dort so viele Leute gegen diesen neuen Bahnhof sind.
Vier Tunnels müssen für den neuen unterirdischen Bahnhof den Stuttgarter Talkessel queren, der Bahnhof selbst kann auch als Tunnel gelten – nahezu hundert Meter breit und in zwölf Metern Tiefe. Die dafür durchgeführten Probebohrungen ergaben, dass der Boden an vielen Stellen Anhydrit enthält, ein Mineral, das sich bei längerer Durchfeuchtung um fünfzig Prozent ausdehnt und als „Salzschwellung“ bersten lässt, was in seiner Umgebung steht. Da Stuttgarts Untergrund von Mineralwasserquellen durchsetzt ist, deren genauen Verlauf man nicht kennt, besteht ein hohes Risiko, dass Anhydrit und Feuchtigkeit aufeinandertreffen.
Ein weiteres Risiko stellt der in einer unterirdischen Röhre unter dem Zentrum verlaufende Nesenbach dar, der für den neuen Bahnhof abgesenkt und an anderer Stelle wieder nach oben gepumpt werden muss. Elementarproblem Nummer drei ist das Grundwasser, das die gigantische Betonwanne, auf der gebaut werden soll, anheben könnte. Hier sollen Pumpsysteme helfen, welche die Wanne frei, das umgebende Erdreich aber wegen der oberirdischen Bauten feucht halten.
Sachverständige, allen voran Frei Otto, der Nestor intelligenter und experimenteller deutscher Ingenieurbaukunst, bezweifeln, dass das geplante „Wassermanagement“ von Stuttgart 21 all dies bewältigen wird. Rückhalt gibt ihren Warnungen das Gewirr enorm pflegeaufwendiger Tunnels, die seit mehr als hundert Jahren Stuttgarts Untergrund so löchrig gemacht haben wie einen Termitenhügel. Das Wissen darum hat bei Stuttgarts protestierenden Bürgern die Bedenken der Experten zu Angst werden lassen – einer Angst, die von Erfahrungen bestätigt wird: 1988, beim Bau des Bahnhofs Kassel-Wilhelmshöhe, brach ein Wohnhaus wegen Grundwasserabsenkung zur Hälfte ein. In München stürzte 1994, wobei zwei Personen starben, ein Bus in einen unfertigen U-Bahn-Schacht, als dessen wassergeschädigte Decke nachgab. Im Juni 2008 sackten in Amsterdams Altstadt Häuser durch Sinken des Grundwassers infolge von U-Bahn-Bauarbeiten bis zu 23 Zentimeter tief ab. Zwei Todesopfer forderte im März 2009 der Einsturz des Kölner Stadtarchivs neben einer U-Bahn-Baustelle; Abpumpen von Grundwasser gilt inzwischen als Ursache. Und in den aufgegebenen Berg- und Tagebaugebieten in Nordrhein-Westfalen und der Lausitz gibt immer wieder die Erde unversehens unter Häusern und Straßen nach.
Doch was in Stuttgart eigentlich ausgefochten wird, ist der Kampf unserer Gesellschaft mit ihrer eigenen Hybris. Wenn die Gegner von Stuttgart 21 immer rigoroser einen Baustopp fordern, stemmen sie sich letztlich gegen den bedenkenlosen Umbau unserer Lebenswelten. Aktionismus Vorgestriger ist das nicht, sondern die Folge zuvor nie gekannter allgemeiner Informiertheit: Wer in Stuttgart mit dem Versprechen, alles sei unter Kontrolle, Riesengruben gräbt, Grundwasser umlenkt und gefährliche Mineralien neutralisiert, muss wissen, dass er einer Öffentlichkeit gegenübersteht, die Desaster wie das trotz hehrster Versprechen seitens Wissenschaftlern und Politikern von Wassereinbrüchen bedrohte Atommülllager Asse ebenso frisch im Gedächtnis hat wie die explodierende Bohrinsel im Golf von Mexiko oder den Giftschlamm, der in Ungarn trotz aller Sicherheitsregeln ganze Landstriche verseucht.
Wenn ich das alles so lese, dann wird auch mir mulmig. Und ich denke darüber nach, ob man ein solches Projekt wirklich nur danach beurteilen darf, ob es alle behördlichen Hürden erfolgreich genommen hat. Wieviel Risiko darf man eingehen und dem Bürger, der dort wohnt, zumuten?
Die erste Pflicht eines Staates - ganz egal, ob bundesweit oder auf Kommunalebene - ist es, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen. Man muß also abwägen zwischen der Notwendigkeit der Baumaßnahme auf der einen und dem Risiko für die Bürger auf der anderen Seite. Nach den Erfahrungen mit so vielen Großprojekten, die schiefgegangen sind, sollte man sich meiner Meinung nach die Risiken sehr, sehr genau anschauen.
Es wird behauptet, man hätte alle Risiken im Griff und es bestehe keine Gefahr. Aber mal ganz im Ernst, ich persönlich zucke immer ein wenig zusammen, wenn mir jemand erklärt, man habe die Natur im Griff. Es gibt soviel unbekannte Variablen im Stuttgarter Untergrund, dass ich höchstens den Satz gelten lassen würde, dass man alles versuchen wird, um die Natur so gut als möglich in den Griff zu bekommen. Aber reicht das aus?
Der Mensch ist zu gewaltigem fähig. Er hat Menschen in den Weltraum und zum Mond gebracht, er hat ein Atom gespalten, er hat die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen durch moderne Medizin beträchtlich erhöht. Der Mensch erbaut riesige Brücken, unglaubliche Tunnel unter dem Wasser und irre Hochhäuser, die wirklich bald am Himmel kratzen.
Diesen Leistungen stehen aber auch die Opfer gegenüber, die diese grandiosen Taten gefordert haben. Wenn der Mensch eines bewiesen hat, dann die Tatsache, dass er die Natur für eine Weile kontrollieren, sie aber nicht wirklich beherrschen kann.
Man kann sicher nicht jedes Risiko auschliessen, aber man kann es soweit minimieren, dass es annehmbar wird.
Stuttgart 21 ist am Ende nichts anderes als ein Riesenprojekt, welches Profit machen soll. Profit für die Bahn, Profit für die Stadt und selbstverständlich auch Profit für die Bürger. Soweit ist das auch alles ok. Aber müssen wir uns nicht fragen - speziell nach all unseren Erfahrungen -, ob selbst dann, wenn alle ein Stück des Profit-Kuchens abbekommen, man die Gesundheit und das Leben von Menschen riskieren darf.
Manchmal frage ich mich, wieviel manche Menschen in ihrem Leben erfahren müssen, bis sie wirklich das Wohl der Menschen im Sinn haben ( und es nicht nur behaupten und dabei das eigene Wohl im Auge haben ).
Ich bin mir sicher, dass am Ende Stuttgart 21 in irgendeiner Weise gebaut werden wird. Und wenn sich dann dort irgendwann mal ein Unfall ereignet, dann wird man sagen, dass man ja alles getan hat, um das zu verhindern, aber dass hier eben die Natur nicht vorhersehbar war.
Aber ist das nicht genau das, was wir immer und immer wieder erlebt haben und was wir schon vorher genau wußten?