Exkurs: Filosofensofa
ganz kurz was zum Konstruktivismus, damit wir sicher gehen, dass wir beide @ leverkühn das gleiche meinen:
Der Konstruktivismus geht davon aus, dass Objektivität im strengeren Sinne nicht existiert – es
gibt keine allgemein verbindliche Wirklichkeit. Wir können uns unserer eigenen Wahrnehmung
und Bewertung nie vollkommen sicher sein.
Das Denkmodell geht von zwei Wirklichkeitsebenen aus - Wirklichkeiten erster und zweiter Ordnung:
(in meinem Beispiel stand statt Strumpfhose "Blumenstrauß" aber ich hab das mal deiner Anregung folgend entsprechend geändert.)
• Die Wirklichkeit 1. Ordnung entspricht der Realität, soweit diese empirisch vorhanden ist.
Damit ist beispielsweise die Strumpfhose gemeint, die der Mann seiner Frau zum Geburtstag schenkt.
Empirisch deswegen, weil die Strunmpfhose greifbar, objektiv spürbar, erkenn- und benennbar ist.
(Es sei den z.b. einen südamerikanischen Ureinwohner, der noch nie eine Strumpfhose gesehen hat und keine Ahnung hat für was das Teil eigentlich gut sein soll. Der hat dann möglichweise auch bei der Wirklichkeit 1. Ordnung eine ganz andere Deutung asl wir. Z.B. ist es in seiner Wirklickeit 1. Ordnung "objektiv" ein merkwürdig riechender Doppelschlauch aus dem man gute Fallen zur Vogelspinnenjagd herstellen kann.)
• Die Wirklichkeit 2. Ordnung besteht in der Wahrnehmung und Bewertung der Strumpfhose.
Hat die Frau einen Diamanten erwartet oder steht auf Ihren "inneren Wunschzettel" Strumpfhose ganz unten, so bedeutet das Geschenk für sie eine Enttäuschung.
Wenn Sie jedoch froh ist, dass er wenigstens an ihren Geburtstag gedacht hat, und sie sich über Strumpfhosen duirchaus freut, kann sie eventuell zur "schönsten Strumpfhose der Welt" werden. (hier greift sehr gut die von dir oben gepostete Formel)
Zum Thema Ritual:
Zitat: Es stellt sich mir die Frage, wie sich diese Rituale eigentlich bilden und welchen Zweck sie erfüllen, bzw. was sie meiner eigenen Wirklichkeit geben... Ergeben sich die Rituale aus Interaktion, oder bringe ich die mit und verändere/verfeinere sie in der Interaktion?
Ritual = nach vorgegebenen Regeln ablaufende Handlungsmuster. Gibt es als Alltagsrituale (z.b. Begrüßungsrituale, Einschlafrituale, Rotweinpauserituale ...) oder auch als besondere Rituale für feierlich festliche Handlungsmuster mit hohen Symbolgehalt (z.b. Weihnachts- oder Hochzeitsritual)
Zu deiner Frage:
Ich würde sagen: nicht "entweder oder" sondern "sowohl als auch".
Rituale können sich aus alltäglichen Interaktionen eher unbewusst herausbilden (immer wenn ich Rotwein trinke, rauche ich eine Zigarette) oder mitgebracht werden (Bei uns wurde das damals immer so und so gemacht, darum machen wir das jetzt hier auch) oder auch bewusst eingeführt werden (Was hältst du von der Idee, wenn wir uns zu Weihnachten Wunschzettel schreiben und vor der Bescherung Weihnachtslieder singen?).
Dies gilt auch für den Zweck.
Zweck einen Rituals kann sein, dass man der Situation besondere Bedeutung verleiht oder das ich Klarheit habe, was ich in der Situation tun soll / kann (gibt Halt und Sicherheit), oder auch damit innerhalb des Rituals bestimmte Gefühle erlebt werden können, die ausserhalb des Rituals nicht so leicht möglich sind (Beispiel: Beim Fußball sich küssende Männer nachdem ein Tor geschossen wurde).
Zweck und Ziele eines Rituals werden häufig nicht reflektiert. Viele Rituale finden oft einfach statt, ohne das sie nach Zweck und Sinn hinterfragt werden. Man macht es halt so, weil man es so gewohnt ist.
Man kann aber Rituale auch bewusst einführen und auf ihren Zweck hin überprüfen und dadurch verfeinern. (Wie war das für dich? hat dir das gefallen? wollen wir das nächstes Mal wieder so machen usw.)
In meiner Familie finden solche Rituale eher bewusst statt, sie werden in der Regel eher reflektiert und zielgerichtet eingesetzt, vorbesprochen und genutzt.
Die Nichtreflektion kann zu lustigen Missverständnissen führen.
Berühmt ist das Beispiel eines alten Ehepaares beim Ritual "Brot teilen und essen":
In der Herkunftsfamilie der Frau war es üblich, dass der Mann immer den Brotkanten bekommt. Also hat sie das so in ihrer Ehe fortgeführt, obwohl sie eigentlich den Kanten lieber selbst gerne genommen hätte.
In der Herkunftsfamilie des Mannes war es üblich, dass der Mann das nimmt was die Frau ihm anbietet, also hat er den Kanten immer genommen, obwohl er den gar nicht so gern mochte, sondern lieber eine Brotscheibe genommen hätte.
Das Ritual des "Bortaufteilens" führte vor dieser Reflektion zur wechselseitigen andauernder Unzufriedenheit, die sich auch an anderer Stelle übertrug.
Seit sie das aber reflektiert und verändert haben, bekommt sie den Kanten und er die Scheibe und beide sind glücklicher miteinander.
Das Ritual des Brotteilens haben sie bewusst beibehalten. Sein Zweck ist jetzt vor allem, dass sie sich daran erinnern und ermahnen, wie leicht man ohne genaueres hingucken oder hinterfragen - ohne Bedürfnisbenennung und Bedürfnisaushandlung - sein Unglück selbst erzeugen kann.
In der Hoffnung, deine Fragen auch richtig verstanden zu haben, verbleibe ich mit filosofischen Sofagruß.