Ich finde die Diskussion: Vererbung versus Erziehung, ähnlich wie bei der Diskussion rund um Homosexualität, problematisch.
(siehe:
http://www.strumpfhose.net/forum/alltagliches/7606-angeboren-oder-anerzogen.html#post83325 - bin wie immer zu blöd den link richtig zu schalten)
Als systemisch denkender Sozialpädagoge und psychosozialer Berater (systemischer Konstuktivismus - erkläre ich gerne an anderer Stelle) gehe ich davon aus, das es keine Wahrheiten gibt, sondern Wirklichkeitskonstruktionen, die jeweils einen Nutzen beinhalten. Darum biete ich euch zum weiterem Sinnieren folgende Gedanken an:
Lasst uns mal so tun, als wäre die These: "Fetischismus ist vererbt" die Wahrheit. Das hätte vielleicht für mich und andere den Gewinn, das ich meinen Fetischismus leichter annehmen kann. Nach dem Motto: Ich kann nichts dafür, es ist ja vererbt. Außerdem müsste ich mich nicht mehr mit eventuellen Therapieabsichten oder ähnlichem rumschlagen. Denn vererbt = nicht veränderbar (außer durch potentielle gentechnische Operationen). Dies betont ja auch die von Michele 69 zitierte israelische Studie. (Zitat von ebenda: "Eine Verwurzelung des sexuellen Lustempfindens im Erbgut eröffnet dagegen neue, vorurteilsfreie Blickwinkel auf ungewöhnlichere Ausprägungen des Sexualverhaltens, so die Wissenschaftler.")
Diese sogenannten "vorurteilsfreien" Blickwinkel auf "ungewöhnlichere Ausprägungen des Sexualverhaltens" eröffnen natürlich auch noch anders Denken – ich fasse ich mal ein Beispiel so zusammen: "Der Sexualstraftäter agiert aus genetischen Gründen, er entscheidet nicht selbst, sondern auf Grund körperlichen Gegebenheiten, also kastrieren wir ihn am besten, oder wir schützen die Umwelt vor seinem Trieb. Wie auch immer. Fest steht er ist und bleibt Sexualstraftäter, außer man könnte seine Gene medizinisch behandeln. Man kann ihn nicht umerziehen und man kann nicht erwarten, das er sich für ein anderes Verhalten entscheidet (entscheiden kann). Dies gälte also bei genetisch bedingten "ungewöhnlichere Ausprägungen des Sexualverhaltens": Ich bin so und kann es nicht ändern.
Jetzt lasst uns mal so tun, als wäre die These: "Fetischismus ist anerzogen" oder auch "Fetischismus ist ein Produkt frühkindlicher Ereignisse" die Wahrheit. Das hat natürlich auch erstmal den Vorteil, das ich sagen kann: Ich kann nichts dafür, ich würde halt so erzogen, ist hatte nun mal diese kindlichen oder meinetwegen auch pubertären "Urerlebnisse", das ist nun mal meine Prägung. Doch schlummert hier drin schon die potentielle Veränderung. Therapie, Aufarbeitung, Heilung, Transformation ist möglich. Horden von Psychologen und Therapeuten rufen mir zu, das sie mir helfen könnten. Nehmen sie die neue Geburtstraumatherapie! Oder doch lieber die klassische Psychoanalyse? Hier zahlt sogar die Krankenkasse. Während Nazis, Stalinisten und schwarze Pädagogen mich lieber ins (Um)-Erziehungslager deportieren würden.
Doch jenseits aller Polemik; in dieser Theorie steckt die Veränderbarkeit. Es ist so, aber es muß nicht so bleiben
Was mich aber an beiden Theorien und auch an der oben zitierten Studie stört, ist das sie von einer normativen durchschnittlichen Sexualität ausgehen. Alles was von diesem Durchschnitt abweicht, muss erforscht und mal genetisch, mal psychologisch begründet werden. Dabei ist die Sexualität aller Menschen so verschieden, vielfältig, unterschiedlich, vielfarbig und vor allem nicht feststehend und starr, sondern im Lauf des Lebens vielen Veränderungen unterworfen. Während du gestern wie ein Junkie dir die Strumpfhose angezogen und onaniert hast und dann dich schämtest, du heute selbstbewusst dein neue Flamme bittest, die Strumpfhose anzulassen, willst du morgen oder in 20 Jahren die Strumpfhose auch wieder ausziehen, weil da noch so viel anderes ist, was du geil findest und schön ist zwischen dir und ihr. Trotzdem wirst du vielleicht immer dein "Lieblingsspielzeug" haben und die Strumpfhose gehört dazu.
Ähnlich wie in der Diskussion rund um Homosexualität möchte ich daher noch eine weitere These anbieten. Nicht als Wahrheit sondern als eine selektiven Beschreibung meiner derzeit empfundene Wirklichkeit. Eine Variante die für mich den Gewinn hat, das sie mir eigene Handlungsmöglichkeiten und eigene Wirkmächtigkeit gibt:
These: Mein "Fetischismus", mein Spiel mit der Kleidung, als Variante oder Teil meiner Erotik, ist etwas wofür ich mich entschieden habe und immer wieder neu entscheiden kann.
Früher manchmal wie ein Süchtiger, weil ich kaum anderes hatte. Heute als Genießer. Nichts und niemand zwingt mich (mehr) dazu.*
Es spielt keine Rolle (mehr) ob anerzogen oder genetisch vererbt.
Ich entscheide mir was Gutes zu tun. Ich entscheide meine Individualität und Sexualität zu bereichern, ohne mir oder der Umwelt zu schaden. Es so zu sehen macht mich stolz und es hat lange gedauert, bis ich es so sehen konnte. Wissenschaftliche Normenwächter haben mir auf diesen Weg dabei nicht geholfen, sondern mich eher gehindert. Sicher, ich bin geprägt durch meine Umwelt und meinem Körper. Doch Sozialisation ist auch ein
aktiver Prozess. Oder um Professor Dumbeldore leicht verfremdet wiederzugeben: Es ist egal was du in den Genen hast, Harry. Entscheidend ist, was du damit machst.
Liebe Grüße
Nylonundmieder
*Alle die jetzt denken: "Der spinnt ja, ich kann einfach nicht anders als die Strumpfhose anzuziehen (das ist wie eine Sucht), das ist ja genau mein Problem";möchte ich gerne Folgendes fragen: Worum würde es in deiner Sexualität, deiner Erotik, deinen Beziehungen gehen, was wäre sozusagen das "Forschungsthema" wenn es deinen Fetischismus, deine Strumpfhose nicht geben würde?
In meiner bisherigen beruflichen Praxis haben sich die jetzt auftauchenden Antworten in der Regel als die eigentlichen Probleme entpuppt. Die jeweilige "Krankheit", etwa der Fetischismus, war letztendlich nichts anders als eine individuelle Lösung der vorhandenen Lebenssituation.